Die Namen waren so dicht aneinander geschrieben, dass sie nach und nach verschwammen. Siebenundsiebzigtausendzweihundertsiebenundneunzig jüdische Bürger Böhmens und Mährens. Oder nur die Ziffer 77.297 auf Papier. Existenzen, eines jeden einzelnen Leben, Existenzen, zu Zahlen reduziert. Die Ungeheuerlichkeit der Taten erhält sinnlich wahrnehmbare Gestalt, las er im Reiseführer und beobachtete ein jüdisch-orthodoxes Ehepaar, das sich von der Wand abwandte. Er verließ die Synagoge und ging hinaus in die zweite Kälte, auf den alten jüdischen Friedhof. Schnee hatte sich auf die schiefen Steinplatten gelegt, und es schien, als wären sie im Boden verwurzelt und würden nach oben hin auswachsen. An diesem Ort hatte er vor Jahren einen Stein vom Grab Rabbi Löws, dem Prager Oberrabbiner und angeblichen Schöpfer des Golems, genommen und als Andenken in seine Hosentasche gesteckt. Später hatte er nachgelesen, dass es jüdischer Brauch war, ihren Verstorbenen Steine auf die Gräber zu legen. Er zog den Stein aus seiner Manteltasche und legte ihn wieder an die für ihn bestimmte Stelle, in der Hoffnung, Rabbi Löw würde ihm verzeihen.
(Auszug aus dem Roman „Später vielleicht“, Verlag Skarabäus, S. 90/91)
Jan 27
2012
Später vielleicht
Ela12.VI 1905-28.IV 1942. Hana 13.IX 1916-4.VIII 1942. Nelly 25.VI 1937-18.XII 1943.
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