Ana war Nadias Worten mit wachsendem Interesse gefolgt. Sie begleitete sie und die anderen Besucher in die eiskalten, nach Kot und Krankheit stinkenden Baracken, in denen die Kinder eng aneinander kauerten. Zwei Schwesternhelferinnen kümmerten sich dort um Säuglinge, die auf Holzbrettern lagen, notdürftig mit Stroh bedeckt.
Nachdem sie Nino zu den anderen Kindern gesetzt hatte, gelangten sie über einen nicht enden wollenden Korridor zum Krankenlager. Dort, in zwei aneinandergrenzenden Zimmern, lagen die kleinen Patienten auf hartem Untergrund, zu müde, ihre Blicke zu heben, nur noch ein Schatten ihrer selbst. Andere saßen abgemagert und unter heftigen Bauchkrämpfen auf dem Töpfchen, schrien vor Schmerzen. Die Rotkreuzschwestern hielten sich wegen des beißenden Gestanks Tücher vors Gesicht. Sichtbar kämpften sie mit der Fassung, und der Offizier wandte sich beschämt von all dem Elend ab. Einzig Nadia zeigte keine merkliche Regung. Sie unterhielt sich eine Weile mit dem Lagerarzt, der ungehalten war wegen fehlender Medikamente, ihr leise zu verstehen gab, dass für manche Kinder jede Hilfe zu spät kommen würde. Nadia notierte Zahlen in ihr Notizbuch, schrieb eine lange Liste dringend erforderlicher Arzneimittel. Dann ging sie mit einem Lächeln im Gesicht auf die Kinder zu, hielt tröstend die fiebrigen Hände, holte Nahrung und Vitaminpräparate aus ihrer Tasche, die sie gemeinsam mit den Rotkreuzschwestern verteilte. In jenem Moment fühlte sich Ana an ihre ersten Wochen im Lager erinnert, als noch das Leben jedes einzelnen Kindes über ihrem eigenen gestanden war. Mit der wachsenden Zahl an Toten breitete sich ihre eigene Hilflosigkeit wie lähmendes Gift in ihr aus, ließ sie einen täglichen Kampf ausfechten, um die Sonne nicht untergehen zu lassen über ihrer Wut und Verzweiflung.
(Aus: Zeit der Häutung. edition laurin 2019)
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